Im September 2025 unternahm die Saint-Gobain-Gruppe einen Schritt, der auf den ersten Blick wie eine weitere digitale Marketingkampagne erscheinen könnte: haben MIA ins Leben gerufen, ein mit künstlicher Intelligenz erstellter Avatar, der die Videoserie “Voice of the Future” präsentiert. Aber abgesehen vom glänzenden Aspekt der Technologie hat Saint-Gobain etwas viel Mutigeres getan: Es hat die traditionelle Art und Weise verändert, wie ein globales Bauunternehmen mit seinen Fachleuten, Kunden und Partnern kommuniziert.
Für die Holzindustrie – und eigentlich für jede B2B-Branche – markiert dieser Moment den Beginn einer Ära, in der es bei der Kommunikation nicht mehr nur um gesendete und empfangene Nachrichten geht, sondern um intelligente, kontextbezogene und personalisierte Gespräche auf globaler Ebene.
Ich bin ein Fan von diesem Bereich und beschäftige mich schon seit einiger Zeit mit künstlicher Intelligenz. Ich habe diese Nachricht genutzt, um mich näher mit diesem Thema zu befassen und ein wenig darüber nachzudenken, wie künstliche Intelligenz uns bei der Kommunikation mit Partnern außerhalb der Organisation und, warum nicht, auch mit Kollegen innerhalb der Organisation helfen kann.
Aber wer (oder was) ist MIA?
MIA ist nicht nur ein Chatbot mit einem sympathischen Gesicht. Es handelt sich um ein komplexes System, das mehrere Ebenen der KI-Technologie kombiniert:
1. Avatar AI mit echter Stimme und Gesicht – MIA präsentiert Videoinhalte zu nachhaltigen Baulösungen aus aller Welt und berichtet dabei über Australien, Indien, China und Brasilien. Sie liest nicht vom Teleprompter ab, sondern erstellt für jedes Land und jeden Kontext maßgeschneiderte Inhalte.
2. In die Website integrierter Chatbot – Neben dem Avatar bietet Saint-Gobain auch einen Text-/Sprach-Chatbot (über Voiceflow), das auf allen Seiten ihrer Website zugänglich ist. Das System beantwortet Fragen zu Marken, Lösungen und Karrieremöglichkeiten, ohne dass sich der Nutzer identifizieren muss.
3. Vertraulichkeit und Sicherheit – Die Gesprächsdaten werden wöchentlich gelöscht, und das System sammelt keine sensiblen Daten. Es herrscht vollständige Transparenz.
Für ein Unternehmen mit 161.000 Mitarbeitern in 80 Ländern und einem Umsatz von 46,6 Milliarden Euro ist die Kommunikation auf diesem komplexen Niveau eine enorme Herausforderung. MIA löst dieses Problem, indem es rund um die Uhr konsistente Antworten in Echtzeit in mehreren Sprachen liefert.
Technologische Infrastruktur
Um das Potenzial dieser Systeme wirklich zu verstehen, müssen wir über die benutzerfreundliche Oberfläche hinausblicken. Ein KI-System wie MIA funktioniert auf mehreren technologischen Ebenen. Im Folgenden möchte ich einige der vorhandenen Technologien vorstellen, die als Inspirationsquelle für alle dienen können, die sich für diesen Bereich interessieren.
Große Sprachmodelle (LLM)
Im Zentrum jedes modernen KI-Kommunikationssystems steht ein LLM – Modelle wie GPT-4, Claude oder Gemini. Diese sind das „Gehirn”, das natürliche Sprache, Kontext und Nuancen der Konversation versteht. Für MIA wurde das LLM speziell darauf trainiert, den Bereich nachhaltiges Bauen, die Materialien von Saint-Gobain und die Unternehmenspolitik zu verstehen.
Knowledge Base (Wissensdatenbank)
Ein einzelner LLM könnte viele schöne Dinge sagen, aber er könnte auch Informationen erfinden. Aus diesem Grund verwenden moderne Systeme eine interne Wissensdatenbank – Hunderttausende von Dokumenten, Produktkatalogen, technischen Leitfäden und Fallstudien. Wenn ein Benutzer nach einem bestimmten Produkt fragt, durchsucht das System diese Datenbank und liefert präzise, dokumentierte Antworten.
Die Schlüsseltechnologie hierfür heißt RAG (Retrieval-Augmented Generation): Das System sucht in der Wissensdatenbank nach relevanten Informationen und generiert dann eine natürliche Antwort in der Sprache des Benutzers, die die gefundenen Informationen mit der Erklärungsfähigkeit des LLM kombiniert.
Model Context Protocol (MCP) – Der universelle Konnektor
Hier wird es wirklich interessant. MCP ist ein Open-Source-Protokoll, das kürzlich von Anthropic (dem Unternehmen, das Claude entwickelt hat) eingeführt wurde und bereits von OpenAI, Microsoft, Google, Amazon und anderen Tech-Giganten übernommen wurde.
Stellen Sie sich MCP als einen USB-C-Anschluss für KI-Systeme vor. Genau wie USB-C die standardisierte Verbindung jedes elektronischen Geräts ermöglicht, ermöglicht MCP die standardisierte Verbindung von KI-Systemen mit jeder Datenquelle oder jedem Tool: Google Drive, Slack, GitHub, SQL-Datenbanken, ERP-Systemen, CRMs, E-Commerce-Plattformen, jeder Art von Anwendung. Damit eröffnet sich eine ganze Welt voller Möglichkeiten.
Vorteile von MCP für Unternehmen:
- Ein einziger Standard – Sie müssen nicht mehr für jedes System separate Integrationen erstellen.
- Sicherheit – Sie kontrollieren genau, auf welche Daten die KI zugreift und wie.
- Skalierbarkeit – Fügen Sie neue Datenquellen hinzu, ohne das gesamte System neu zu schreiben.
- Interoperabilität – Dasselbe KI-System kann mit Instrumenten verschiedener Anbieter arbeiten.
Beispielsweise könnte ein Hersteller einen KI-Chatbot direkt mit seinem Inventarsystem, seinem CRM, seiner technischen Dokumentation und seinem Produktkatalog verbinden – alles über ein einziges standardisiertes Protokoll.
Die Liste ist nicht vollständig, aber im Prinzip kann sie Ihnen dabei helfen, jede gewünschte Automatisierung zu realisieren. Für diejenigen, die mit der Technologie weniger vertraut sind, empfehle ich, eine bereits auf dem Markt vorhandene Lösung (Anwendung) zu verwenden und Ihre Prozesse daran anzupassen.
Beispiele aus anderen Branchen
Produktion und Logistik
IBM Watson wird verwendet für:
- Vorausschauende Wartung – KI analysiert Sensoren in Fahrzeugen und prognostiziert Fehler, bevor sie auftreten
- Qualitätskontrolle – Automatische Erkennung von Fehlern in Bildern
- Optimierung der Lieferkette – Intelligente Lagerverwaltung
Chatbots in der Fertigungsindustrie ermöglichen es Managern, den Status von Bestellungen per Spracheingabe zu aktualisieren, Benachrichtigungen über Lieferungen zu erhalten und Geräteindikatoren zu überprüfen – alles im Dialog, ohne komplexe Schnittstellen.
ARIA (BrainBox KI)
In der Bauindustrie ist das System ARIA, entwickelt von BrainBox AI aus Kanada analysiert, berät und automatisiert Aufgaben im Zusammenhang mit dem Gebäudeleben. Es prognostiziert den Bedarf, optimiert die Energieeffizienz und interagiert mit den Nutzern per Text oder Sprache.
Für die Holzindustrie könnte ein ähnliches System beispielsweise die Prozesse der Holztrocknung, die Überwachung der Lagerbedingungen und die Optimierung des Energieverbrauchs in Fabriken steuern.
B2B-Statistiken, die für sich sprechen
- 58% aus B2B-Unternehmen verwenden bereits Chatbots, laut ProProfs
- 78% von den führenden Unternehmen der produzierenden Industrie bestätigt, dass KI die Produktivität steigert
- Der Chatbot-Markt wird von 8,27 Milliarden Dollar im Jahr 2024 auf 27,29 Milliarden im Jahr 2030 steigen
- Kostenersparnis: E-Commerce spart durch den Einsatz von Chatbots etwa 30% der jährlich für den Kundenservice ausgegebenen 1,3 Billionen Dollar ein.
Konkrete Anwendungen für die Holzindustrie
Nun zum wichtigen Teil: Wie könnte die Holzindustrie diese Technologien nutzen? Hier sind einige realistische Szenarien:
1. KI-Assistent für technische Spezifikationen
Ein Hersteller von Schichtholz oder CLT könnte einen KI-Avatar erstellen, der:
- Beantwortet rund um die Uhr technische Fragen zu Produkten in jeder Sprache.
- Empfiehlt Lösungen basierend auf den Projektanforderungen (Abmessungen, Festigkeit, Zertifizierungen)
- Erstellen Sie sofort vorläufige Angebote
- Senden Sie relevante technische Unterlagen
- Verbindet den Kunden direkt mit dem richtigen Vertriebsmitarbeiter
2. Wissensdatenbank für Händler und Partner
Stellen Sie sich ein System vor, das Folgendes vereint:
- Alle Produktkataloge werden in Echtzeit aktualisiert
- Zertifizierungen und Konformitäten für verschiedene Märkte
- Installations- und Montageanleitungen
- Fallstudien und Referenzen
- Preise und Verfügbarkeit (über MCP verbunden mit ERP)
Ein Händler aus Deutschland könnte auf Deutsch fragen: “Ich benötige 200 m² Laminat der Klasse 33, zertifiziert für Fußbodenheizung, lieferbar in 2 Wochen nach Bayern. Welche Optionen habe ich?”
Das System würde die Datenbank durchsuchen, den Lagerbestand in Echtzeit überprüfen, den Transport berechnen und ein vollständiges Angebot erstellen – alles im Rahmen des Gesprächs.
3. Schulung und Einarbeitung
Für eine Möbel- oder Fertigteilfabrik könnte ein KI-Agent Folgendes tun:
- Schulen Sie neue Mitarbeiter mit interaktiven Tutorials
- Beantwortet Fragen zu Sicherheitsverfahren
- Erklären Sie die Produktionsprozesse
- Sie bieten Lösungen für Störungen im Betrieb der Anlagen.
4. Intelligenter Kundenservice
Anstelle von Kontaktformularen und Antworten nach 48 Stunden könnte ein KI-Chatbot:
- Sofortige Lösung 80% aus den wiederkehrenden Fragen
- Leiten Sie komplexere Situationen an echte Menschen weiter
- Feedback sammeln und Kundenstimmungen (Reaktionen) analysieren
- Biete Support über mehrere Kanäle (Website, WhatsApp, Facebook Messenger)
5. Marktplatz-Intelligenz
Ein KI-System, das mit externen Datenquellen (über MCP) verbunden ist, könnte:
- Überwachen Sie die Preise Ihrer Mitbewerber
- Analyse der Branchentrends
- Identifizieren Sie Exportmöglichkeiten
- Strategieanpassungen vorschlagen
Alles aus öffentlichen Quellen, natürlich. Wir sprechen hier nicht von illegalen Aktivitäten wie dem Hacken der internen Netzwerke der Konkurrenz.
Herausforderungen
Es ist nicht alles rosig. Die Implementierung dieser Systeme bringt Herausforderungen mit sich:
Kosten
Ein einfacher Chatbot für ein mittelständisches Unternehmen mit internationaler Präsenz kostet zwischen 10.000 und 30.000 US-Dollar. Dabei handelt es sich um dedizierte Anwendungen, die auf lokalen Servern laufen. Ein komplexes System mit Avatar, Wissensdatenbank und Integrationen kostet zwischen 50.000 und 200.000 US-Dollar, je nach Komplexität sogar noch mehr. Die jährlichen Wartungskosten können 15 bis 30 % der Anschaffungskosten betragen.
Die gute Nachricht ist jedoch, dass Sie mit den eingangs vorgestellten Tools selbst einen Chatbot für Ihr kleines Unternehmen erstellen können, und zwar zu deutlich geringeren Kosten und mit weniger Ressourcen. Sie können auch auf die vielen Anwendungen dieser Art mit Cloud-Infrastruktur zurückgreifen, die derzeit auf dem Markt erhältlich sind. Der ROI (Return of Investment) kann spektakulär sein: Unternehmen berichten von Einsparungen von bis zu 30% im Kundenservice und Steigerungen von 40% bei der Gewinnung neuer Partner.
Daten und Qualität
Das System ist nur so gut wie die Daten, mit denen es gefüttert wird. Wenn Ihre Wissensbasis chaotisch ist, werden auch die Antworten chaotisch sein. Die Datenaufbereitung kann 40 bis 60 % der Implementierungszeit in Anspruch nehmen.
Sprache und Kontext
Für bestimmte Märkte (z. B. Osteuropa, Skandinavien, Baltikum) muss das System auf die lokale Terminologie, spezifische Maßeinheiten und nationale Standards trainiert werden.
Sicherheit und Datenschutz
Vielleicht hätte ich damit beginnen sollen, mit Sicherheit und DSGVO. Kundendaten, Preise, Strategien – all das muss geschützt werden. Aus diesem Grund entscheiden sich viele Unternehmen für selbst gehostete Lösungen (auf eigenen Servern) anstelle der öffentlichen Cloud.
Die Frage ist nicht “ob”, sondern “wann”
Saint-Gobain hat MIA nicht entwickelt, um “cool” zu sein. Sie haben es getan, weil sie verstanden haben, dass die Zukunft der B2B-Kommunikation bereits begonnen hat. Wenn man 161.000 Mitarbeiter, Dutzende von Marken, Hunderttausende von Produkten und Millionen potenzieller Kunden in 80 Ländern hat, reicht die klassische menschliche Kommunikation einfach nicht mehr aus. Sie hat bereits ihre Grenzen erreicht.
Für die Holzindustrie – egal ob es sich um CLT-Hersteller in Rumänien, Möbelfabriken in Polen oder Parkettvertriebe in Deutschland handelt – sind diese Technologien keine Science-Fiction. Sie sind jetzt zu immer erschwinglicheren Kosten und mit offenen Standards (MCP) verfügbar, die die Abhängigkeit von einem einzigen Anbieter beseitigen.
Die Frage ist nicht, ob die Holzindustrie diese Technologien übernehmen wird. Die Frage ist: Wer wird der Erste (oder die Ersten) sein und davon profitieren?
Ein Unternehmen, das heute ein intelligentes KI-System in den Bereichen Kommunikation, Vertrieb und Kundendienst einsetzt:
- Bietet seinen Kunden ein erstklassiges Erlebnis
- Reduziert die Reaktionszeit drastisch
- Skalieren Sie ohne proportionale Verpflichtungen
- Sammelt wertvolle Daten über Anforderungen und Trends
- Deutlich von der Konkurrenz abheben
In den nächsten zwei bis drei Jahren werden wir erleben, wie diese Systeme im B2B-Bereich zum Standard werden, genau wie Websites in den 2000er Jahren zum Standard geworden sind. Die Unternehmen, die sie als erste einführen, werden die Standards der Branche setzen.
MIA von Saint-Gobain ist nicht nur ein sympathischer Avatar, der über nachhaltiges Bauen spricht. Sie ist eine Warnung und eine Chance: Die Technologie für intelligente, kontextbezogene und personalisierte Kommunikation auf globaler Ebene existiert bereits. Sie ist quelloffen. Sie ist zugänglich. Es ist an der Zeit, darüber nachzudenken, wie wir sie in unsere Branche integrieren können.
Denn im Zeitalter der KI stellt sich nicht mehr die Frage, ob Sie besser mit Ihren Kunden kommunizieren werden. Die Frage lautet: Wie schnell werden Sie damit beginnen?
Für weniger technisch versierte Leser:
- LLM (Großes Sprachmodell) – Ein KI-Modell, das auf Milliarden von Texten (Daten) trainiert wurde und natürliche Sprache versteht und generiert.
- Chatbot – Softwareprogramm, das menschliche Konversation simuliert
- Avatar KI – Digitale Darstellung (Gesicht + Stimme) einer Person, animiert durch KI
- Wissensdatenbank – Organisierte Datenbank mit Informationen über das Unternehmen, Produkte, Verfahren
- RAG (Retrieval-Augmented Generation) – Technik, die die Informationssuche mit der Generierung natürlicher Antworten kombiniert
- MCP (Modellkontextprotokoll) – Open-Source-Standard für die Verbindung von KI mit verschiedenen Datenquellen und Tools

























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